Jorge Bucay
Berne schlägt eine Liste mit dreizehn »Basisregeln« vor, in denen alle anderen auf die eine oder andere Weise enthalten sind.
Sie lauten:
1. Sei nicht da. Dieses Verhaltensmuster entsteht immer dann, wenn ein Kind in eine »unangemessene Situation« hineingeboren wird. Seine Eltern stehen kurz vor der Trennung, sind zu alt, zu jung, zu arm oder »zu ungebunden«. Es muss sich dabei nicht immer um eine unerwünschte Schwangerschaft handeln, sondern vielmehr um eine unerwünschte Geburt. Diese Erklärung finde ich enorm wichtig. In letzter Zeit lese ich in Krankenakten immer wieder mit Entsetzen den Begriff »ungewolltes Kind«, wenn dort allenfalls die Bemerkung »unerwartete Schwangerschaft« stehen sollte, was nicht dasselbe ist.
2. Sei nicht der, der du bist. Hier wollten die Eltern ein Kind mit einem anderen Geschlecht, einer anderen Hautfarbe oder aber ein völlig gesundes Kind. Manchmal soll das Kind auch den Platz einer anderen Person einnehmen (ihres Vaters, seiner Mutter oder eines kürzlich verstorbenen Geschwisterkinds).
3. Komm mir nicht zu nahe. Diese Botschaft hängt mit der Fähigkeit oder dem Unvermögen der Eltern zusammen, mit Schmerz umzugehen. Ein Kind, das mit der nicht verheilten Wunde durch einen Verlust in der Familie konfrontiert wird, kann leicht ein Verhalten entwickeln, das dieser Botschaft entspricht. Andere Male zeigt sich in ihr die Schwierigkeit der Eltern mit körperlicher Nähe (Cecilia erzählte mir einmal, wie sie auf einer Deutschlandreise erlebte, dass Eltern ihre Kinder im Kindergarten abholten und ihnen zur Begrüßung förmlich die Hand gaben).
4. Du gehörst nicht dazu. Diese Botschaft ist in gewisser Weise nicht von der vorherigen zu trennen. Auch hier kann es darum gehen, sich unterbewusst vor einem Verlust zu schützen. Oft ist sie auch die Reaktion des Kinds auf die soziale Isolation der Familie. Die Eltern haben keine Freunde, machen keine Verwandtschaftsbesuche, gehören keiner Gruppe, keinem Verein, keiner politischen Richtung an. Die Familie ist eine vom Umfeld isolierte Gruppe.
5. Du sollst nicht groß werden. Diese Botschaft äußern Eltern, die jemanden brauchen, um den sie sich kümmern können. Sie wollen ein Kind, auf das sie ihr eigenes Bedürfnis nach Schutz und Fürsorge projizieren können. Manchmal findet man sie auch bei Eltern, denen etwa der Gedanke an die erwachende Sexualität des Jugendlichen Angst macht. In jedem Fall benutzen Eltern, die diese Botschaft aussenden, ihre Kinder, um ihrem Leben einen Sinn zu geben.
6. Sei kein Kind. Hier handelt es sich um die entgegengesetzte Botschaft (wobei beide Botschaften nicht unbedingt inkompatibel sein müssen. Aus der Summe wird ein Existiere nicht). Sie wird von Eltern ausgesandt, die nicht die Verantwortung für ein Kind übernehmen wollen, das auf sie angewiesen ist. Manchmal soll sie das Kind dazu bringen, sich um seine jüngeren Geschwister zu kümmern – oder um seine Eltern, die sich wie Kinder benehmen.
7. Das kannst du nicht. Hier bringen die Eltern den Erfolgen ihrer Kinder keine Wertschätzung entgegen, indem sie diese ständig mit denen anderer Kinder, Erwachsener oder manchmal auch der Eltern selbst vergleichen und so deren Selbstwertgefühl schwächen.
8. Dir soll es nicht gut gehen. Diese Botschaft wird von Eltern ausgesendet, die ihre Kinder nur beachten, wenn diese Probleme haben oder krank sind. Sie bringen den Kindern von frühester Kindheit an bei, dass es auch positive Nebenwirkungen haben kann, wenn es ihm schlecht geht.
9. Nein! Diese Botschaft wird im Allgemeinen von überängstlichen Eltern ausgesendet. Das Kind lernt, dass das Leben gefährlich ist und dass alles, was es tut, ein Risiko für seine Person darstellt (vor allem das, was ihm Freude bereitet).
10. Du bist nicht wichtig. Diese Botschaft senden Eltern aus, die »keine Zeit« für die Schule ihrer Kinder, für ihre Freunde und ihre Bedürfnisse haben. Diese Verpflichtungen werden an ein Kindermädchen oder die Großeltern weitergegeben oder einfach ignoriert. Zuweilen erscheint sie auch in Form des Ausschlusses aus dem Familienleben (»Geh, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen«).
11. Sei perfekt. Hier handelt es sich um eine Erscheinungsform elterlicher Eitelkeit. Die Kinder sollen gute Noten mitbringen, sich im Sport hervortun oder gut zeichnen können, damit die Eltern stolz auf sich sein können, weil sie ein so kluges, begabtes, intelligentes Kind haben. In der Schule haben sie nur ein »Sehr gut« oder im Gegenteil ein »Ungenügend« im Blick. Für das eine wird das Kind belohnt, für das andere bestraft. Alle anderen Noten werden völlig ignoriert. »Was heißt das schon, ein ›Gut‹? Ein ›Gut‹ schafft doch jeder …«
12. Denk nicht nach. Vielleicht eine Variante von Du sollst nicht groß werden. Hier geht es um die Gefahr, die darin liegt, eigene Gedanken und Vorstellungen zu haben. Unterschiedliche Ansichten zu vertreten. Oder an »bestimmte Dinge« zu denken (Sex, Drogen, Freiheit usw.). Es gibt verschiedene Abstufungen dieser Botschaft, von »denk nicht so, wie du denkst, sondern so, wie du denken sollst« bis hin zu »du sollst überhaupt nicht denken«.
13. Du sollst nicht fühlen. Hier haben die Eltern Angst vor ihren eigenen Gefühlen oder sie haben eine ganz bestimmte Empfindung verdrängt, oft Trauer und Schmerz, manchmal auch Freude. Auch diese Botschaft gibt es in unterschiedlichen Varianten: »Du sollst keine Gefühle haben.« »Du sollst keinen Schmerz empfinden.« »Du sollst nicht so empfinden, wie du empfindest, sondern so, wie ich es dir sage.«
Diese letzte Botschaft geht mir am meisten gegen den Strich, vielleicht weil sie eine der häufigsten ist oder weil ich beruflich davon betroffen bin. In meiner Praxis kämpfe ich tagtäglich gegen sie an.
Mit Sicherheit ist diese Liste nicht vollständig, denn die furchtbaren Dinge, die wir Kindern antun, kennen keine Grenzen. Aber diese Beispiele sollen genügen, um aufzuzeigen, was mich an solchen Drehbüchern interessiert.
Diese Botschaften werden dem Kind, wie gesagt, mehr oder weniger subtil durch Mimik und Gestik vermittelt oder durch Zustimmungen und Ablehnungen, die schon vor der Geburt des Kinds da waren. Sie kommen bereits in der allerersten Botschaft zum Ausdruck, denn nichts anderes ist die Wahl des Namens, den wir dem Neugeborenen geben.
Alle diese Botschaften laufen darauf hinaus, dass ein Kind gegen Ende der Kindheit (mit acht Jahren), eine klare Vorstellung davon hat, was von ihm erwartet wird. Das Kind (und später der Erwachsene) möchte gefallen, es möchte sich geliebt und angenommen fühlen. Deshalb erhält es von seinen Eltern die unmittelbare Botschaft, dass es die größte Anerkennung erfährt, wenn es diesen Vorgaben folgt.
Aufgrund dieser Vorgaben und seiner Erfahrungen erstellt es ein Drehbuch seines Lebens, eine Art Leitfaden für seine Existenz, der seine Antwort auf diese ersten Lebensjahre widerspiegelt.
Diese Drehbücher sind natürlich sehr unterschiedlich, was Länge, Detailreichtum, Genre, Substanz usw. betrifft.
Es gibt dramatische Drehbücher mit Monstern, Verfolgungsjagden und Morden.
Es gibt Standarddrehbücher mit Hochzeit, einem guten Job, zwei Kindern (ein Junge, ein Mädchen) und einem friedlichen Leben bis zum Tod.
Es gibt auch tragische Drehbücher mit Leid, Schmerz, Verlusten, Wahnsinn und Selbstmord (entsprechend der Botschaft »Sei nicht da«).
So stehe ich am Ende meiner Kindheit mit einem gut geschriebenen, ziemlich komplexen Skript da und beginne, nach den übrigen Personen zu suchen, die ich für das Stück brauche (du erinnerst dich an die psychologischen Spiele?)
Aber haben wir wirklich die Macht, über das zu bestimmen, was mit uns geschehen wird?
Ich glaube nicht.
Aber ich glaube, dass die Tatsache, dass es unser Drehbuch gibt, eine Tendenz zeigen kann. Der Mechanismus, nach dem diese Skripte funktionieren, folgt dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung.
Was ist das, eine selbsterfüllende Prophezeiung?
Eines Morgens steht Juan auf und sieht aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich das moderne Gebäude der Bank, bei der Juan ein Konto hat. Überrascht entdeckt er einen Fleck auf der Glasfassade und denkt sofort: »Diese Bank wird bankrottgehen.«
Er überquert die Straße und wartet vor dem Eingang, dass die Bank öffnet, um sein Geld in Sicherheit zu bringen.
Da kommt Pepe aus dem Lebensmittelladen vorbei.
»Wie geht’s, Juan?«
»Gut, und selbst?«
»Was machst du hier?«
»Ich warte, dass die Bank öffnet.«
»Musst du Steuern zahlen?«
»Nein, ich will mein Konto auflösen.«
»Warum?«
»Ach, es gibt keinen speziellen Grund. Aber ich hatte so eine Ahnung, wegen des Flecks da auf der Glasscheibe. Siehst du ihn? Und da dachte ich, weshalb das Risiko eingehen?«
Pepe, der auch ein Konto bei der Bank hat, denkt bei sich: »Er hat recht. Weshalb ein Risiko eingehen?« Er stellt sich hinter Juan an, um zu warten, bis die Bank öffnet.
Da kommt Doña María vorbei.
»Ah, Don Pepe! Wie geht es Ihnen?«
»Na, Sie sehen ja, Doña María … Ich warte darauf, dass die Bank aufmacht.«
»Weshalb so früh?«
»Juan und ich wollen unser Geld abheben. Wegen des Risikos, wissen Sie? Wegen der Sache mit dem Fleck.«
Doña María fragt nicht nach dem Fleck. Sie hört nur das Wort »Risiko«. Nun besteht die Schlange schon aus drei Personen.
Um zehn Uhr, als die Bank öffnet, reicht die Schlange bereits zwei Straßen weit. Es sind die Leute aus dem Viertel, die ihre Konten auflösen wollen.
Natürlich hat die Bank nicht genügend Bargeld da, um alle auszuzahlen. Um zwölf tritt ein Bankangestellter vor die Tür und sagt:
»Wir werden bis zwei Uhr warten müssen. Ich habe weitere Barbestände bei der Zentrale angefordert. Bleiben Sie bitte ruhig.«
Die Leute hören: warten, Barbestände besorgen, ruhig bleiben … Daraufhin beginnen sie mit Nachdruck, ihr Geld zu verlangen. Sie wollen nicht länger warten. Es erscheinen Fernsehreporter und Fotojournalisten. Sie machen Aufnahmen von »den armen alten Menschen«, die ihr Geld nicht bekommen.
Am nächsten Tag ist die Nachricht in sämtlichen Medien: »Skandal vor der Bank.« Die Vorkommnisse werden aufgebauscht und ziemlich sensationslüstern erzählt. Vor sämtlichen Filialen der Bank bilden sich lange Schlangen von Menschen, die wütend ihre Ersparnisse fordern, und zwar sofort!
Die Folgen sind abzusehen …
Zwei Tage später steht Juan auf und liest in der Zeitung: »Bank angeschlagen. Endgültige Schließung befürchtet.« Juan legt die Zeitung zur Seite, lächelt und sagt: »Wusste ich es doch …«
Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Eine Vorhersage, die die Ereignisse, um die es geht, überhaupt erst auslöst.
Und plötzlich macht vieles Sinn, was zuvor unerklärlich schien. In meinem Horoskop steht, dass mir ein blonder Mann Schaden zufügen wird. Also gehe ich los und halte die ganze Zeit Ausschau nach einem blonden Mann, der mir etwas Böses will. Und ich werde ihm begegnen, ganz sicher. Und falls nicht, kann ich sämtliche blonden Männer, die ich kenne, verfolgen und sie beobachten, bis irgendwann einer von ihnen zu mir sagt:
»Du nervst, scher dich weg!«
Aha! Das ist er!
Die selbsterfüllende Prophezeiung funktioniert in beide Richtungen. Nichts gibt mir mehr Möglichkeiten, etwas zu erreichen, als daran zu glauben.
Und nichts schränkt meine Chancen mehr ein, als zu glauben, dass ich es niemals schaffen werde.
Zurück zu den Drehbüchern.
Entscheidend ist, dass ich mir meiner Drehbücher bewusst werde, dass ich nach ihnen suche und sie erkenne. Dass ich herausfinde, welche Verhaltensweisen in meinem täglichen Leben nicht auf eigene Entscheidungen zurückgehen, sondern Teil eines Skripts sind, an das ich mich zu halten versuchte.
Das ist der erste Schritt.
Der zweite besteht darin, dieses Drehbuch zu zerreißen. Wenn ich immer noch ein Skript möchte (nennen wir es: einen Plan), kann ich selbst eines schreiben, das besser zu mir und meinem Leben im Jetzt und Hier passt.
Und wenn möglich, sollte man mit Bleistift schreiben, um jederzeit alles ausradieren zu können, wenn einem danach ist.
Und vor allem sollte man das Skript jederzeit zerreißen und durch ein neues ersetzen können, das meinem derzeitigen Leben, meiner Person und meinem Fühlen mehr entspricht.
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