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Distress heutigentags

Wer es an die Spitze bringt, auf dem lastet in der Tat ein Leistungsdruck, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Die Informationsflut aus dem Computer überschwemmt ihn, nicht sofort zu reagieren kann tödlich sein, die Kommunikation mit allen Winkeln der Welt fordert ihm höchste Präsenz in jeder Sekunde ab. Obendrein plagen ihn Versagensängste; von Missgunst umlauert fühlt er sich sowieso.

Da greifen viele Manager nachts zu Schlaf- und am Tag zu Aufputschmitteln: smart drugs (Muntermachern) oder brain boosters (Denkbeschleunigern, Hirnkompressoren). Erst recht droht ihnen dann über kurz oder lang das Burn-out-Syndrom: das Gefühl, ausgebrannt zu sein, die Depression nach dem Dauerstress - und schließlich der Herzinfarkt, zynisch der Ritterschlag der Leistungsgesellschaft genannt.

Dazu natürlich immer wieder die Lust an der Macht, am Status, am Geld, manchmal sogar ein Triumph. Der Sturz eines großen Bosses aber ist besonders tief, mit wie vielen Millionen er auch abgepolstert wäre: Da ist er plötzlich ein Admiral ohne Schiffe. Da erleidet er im Wohlstand denselben Frust wie der gemeine Arbeitslose. Ja: Das erzwungene Nichtarbeiten ist ein klassisches Unglück geworden, im Lebensgefühl der meisten Betroffenen wie in der öffentlichen Meinung.

Der Muße oflegen wie die reichen Griechen und Römer? Sich in Gott versenken wie Thomas von Aquin? Das schaffen wir nicht mehr. Auch gibt es kaum noch so schöne Berufe wie den des Schäfers oder des Kuhhirten: Da musste man, bei herzlich wenig Tätigkeit, vor allem ein offenes Auge und eine fürsorgliche Gesinnung investieren - und sah doch Sinn in solchem Leben.

Sich in sinnfreiem, sinnlosem Nichtstun einzurichten, dazu ist ein erhebliches Quantum an Initiative und Phantasie vonnöten - es sei denn, man wäre in eine Gesellschaftsschicht eingebettet, die, noch im 20.Jahrhundert in England, die ewige Freizeit guten Gewissens genoss und sie mit kurzweiligen Bräuchen ausgestattet hatte. Die englische Oberschicht, schrieb David Brooks 2006 in der New York Times, «führte ein Leben in verhätscheltem Müßiggang (cosseted leisure), der nur durch Alkoholmissbrauch, Ehebruch und Jagdunfälle unterbrochen wurde».
(a.a.O., S.186f.)

Lit.:
Schneider, W.: Glück! Eine etwas andere Gebrauchsanweisung. Reinbek bei Hamburg 20071.


Hermine sagt: Kuddel* sagte so herrlich was von wegen die Seele baumeln lassen.

* (= Kurt T.)

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