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Krankheiten machen weise

Ohlsdorf
15.2.78
Lieber Siegfried Unseld,
ich habe die Krankheiten immer höher eingeschätzt als alles andere, weil daraus gesund hervorgehen immer das grösste und wichtigste Geisteskapital gewesen ist. Eine Krankheit, die einen ins Bett geworfen hat, ersetzt dicke Lebenswälzer.
Nehmen wir drei schwerere Krankheiten in einem Leben und wir sind, wenn wir den Kopf und den Mut dazu haben, allen andern so weit voraus, dass wir sie hinter uns nur noch mit Mühe erkennen können.
Jede Krankheit macht uns stärker, mit jeder sehen wir tiefer, eine jede ist so unbezahlbar wie nichts. Wenn wir sie, weil wir wollen, mit dem Kopf überstehen.
Insgeheim wissen die Köpfe, wofür sie hin und wieder krank sind.
(a.a.O., S.534f.)

Lit.:
Fellinger, R., Huber, M., Ketterer, Julia: Thomas Bernhard. Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Frankfurt am Main 2009.

Hermine sagt: Lieber immer nur ein bisschen kränkeln.

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