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Ad. Sartre

Man stieg die Metrotreppe hoch, nahm mit den Augen gerade noch ein bißchen Jugendstil mit und stand mitten in Saint-Germain-des-Pres, einem magischen Ort, lief zum Cafe de Flore oder zum Cafe des Deux Magots und wartete auf Sartre. Meist aber schrieb er, den Touristenblicken entzogen, im ersten Stock des Cafes. Er wohnte im vierten Stock eines Eckhauses in der Rue Bonaparte mit Ausblick auf das Cafe des Deux Magots, und manchmal saß er da tatsächlich neben Simone de Beauvoir und schielte über seine Kaffeetasse hinaus auf die Terrasse, wo die „Existentialisten“ ihre Bärte zur Schau stellten. Es waren die ersten Bärte nach dem Krieg, was hatten sie zu bedeuten? Es ist nur eine „attitude“, sagte mein französischer Freund schulterzuckend. Die „Existentialistinnen“ trugen das Haar lang und waren alle schwarz gekleidet, das war keine Trauerpose, sondern eine Notlösung: Sie hatten ihre nicht zueinander passenden Kleidungsstücke, diese dürftigen Hinterlassenschaften der Kriegsjahre, schwarz gefärbt, weil nur Schwarz alle Farben zudeckt.
Sartres Philosophie, soweit ich sie zu verstehen meinte, läuft darauf hinaus, daß der Mensch, indem er frei handelt, seine eigenes Wesen erfindet und selbst inszeniert. Er ist eine leere Existenz, ein Mensch ohne Eigenschaften: er wird das, was er wird, durch das, war er tut. Er ist zur Freiheit verurteilt und somit für jede seiner Taten verantwortlich. Sartres allein auf die Gesellschaft bezogenen sittlichen Forderungen sind von eisig puritanischer, ja lebensvernichtender Strenge, damit wollte ich nichts zu tun haben. Wohl aber gefiel mir die „schwarze Muse des Existentialismus“, Juliette Greco mit dem hüftlangen schwarzen Haar, ich hörte und sah sie im „Club de la Rose Rouge“. Mit inständig gedehnten Vokalen sang sie „Dans la Rue des Blancs Manteaux“, den Text hatte ihr Sartre geschrieben. Vor ihrem Mund verhäkelte sie damals schon mit zarten Fingern das unsichtbare Garn ihrer dunklen traurigen Lieder. In „Existentialisten“-Kellern wie der „Rose Rouge“ oder dem „Tabou“ schleuderten die Männer ihre Partnerinnen beim Boogie-Woogie über die Schultern. Von seinen bärtigen Anhängern distanzierte sich Sartre: „Es ist so weit gekommen, daß man unter Existentialismus >Sich-Ausleben< versteht.“ Der Philosoph, der Chansons schrieb, der erzieherische Denker auf dem Markt, wann hatte es dies nach der Antike noch gegeben?
(a.a.O., S.141f.)

Lit.:
Hensel, G.: Glück gehabt. Szenen aus einem Leben. Frankfurt/Main u. Leipzig 1994.

Hermine sagt: Na, das ist ja mal eine schöne Bescherung.

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