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Private Krankenversicherungen versus Gesellschaft

Obwohl die gesetzlich versicherten Arbeitnehmer faktisch das gesamte Gesundheitswesen allein tragen müssen, werden sie in den Praxen oft wie Bittsteller behandelt, weil die Ärzte lieber Privatpatienten behandeln, bei denen sie deutlich mehr abrechnen können. Studien haben gezeigt, dass Kassenpatienten im Durchschnitt dreimal länger als Privatpatienten warten müssen, wenn sei einen Facharzt sprechen wollen. Zudem kann es bei gravierenden Krankheiten wie Krebs passieren, dass ein normal Versicherter niemals einem ausgewiesenen Spezialisten vorgestellt wird, während Privatpatienten gleich mehrere Koryphäen konsultieren können.
Diesen teuren und exzellenten Service können die Privatkassen nur bieten, weil sie dem »Solidarprinzip« nicht unterliegen und also darauf verzichten dürfen, auch Ärmere in ihre Reihen aufzunehmen. Dieser konsequente Eigennutz lohnt sich auch insofern, als noch genug Geld übrig bleibt, damit die privaten Versicherungskonzerne Milliardengewinne einstreichen können.
Es hätte anders sein können in Deutschland, denn nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Alliierten eine einheitliche Bürgerversicherung einführen, in die auch die Selbständigen und die Beamten einzahlen. Dieser Plan scheiterte jedoch ausgerechnet an den Gewerkschaften, die so ständisch dachten wie ihre Mitglieder. Vor allem die Angestelltenorganisationen fürchteten, dass sie ihre Sonderstellung verlieren könnten. Es ist also keineswegs neu, dass die Mittelschicht ihre wahren ökonomischen Interessen verkennt, weil sie sich als Elite inszenieren will.
(a.a.O., S.173f.)

Lit.:
Herrmann, Ulrike: Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht. Frankfurt/Main 2010.

Hermine sagt: Gewerkschaftler strotzen nach wie vor vor blinder Arroganz.

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