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Die Heinesche Theodizee

[...] um das zu verstehen, muß man sich erst einmal über die philosophischen Grundlagen verständigen. Heine macht das in den »Englischen Fragmenten«. Was das Grundübel der Welt ist, hat er vollkommen klar erkannt, seit er in England ist. Das Grundübel der Welt liegt darin, daß der liebe Gott zu wenig Geld erschaffen hat. In Bedlam trifft Heine einen wahnsinnigen Politiker, der ihm anvertraut, der liebe Gott sei eigentlich ein russischer Spion. Heine findet das plausibel und ernennt den wahnsinnigen Politiker von Bedlam umgehend zum Philosophen, der die nötige Tiefe in diese Überlegungen bringe. Ob dieser wahnsinnige Politiker und tiefsinnige Philosoph - was beides ungefähr dasselbe ist - am Ende auch ein bißchen Heine selbst ist, das sagen die »Englischen Fragmente« nicht. Der Philosoph tut, was man mit jeder philosophischen These tun sollte. Er radikalisiert sie. Nicht nur, daß der liebe Gott zu wenig Geld erschaffen hat, er hatte auch selbst keines, als er sich an die Schöpfung machte. Alles mußte er sich vom Teufel borgen und ihm die vollständige Schöpfung als Hypothek überschreiben. Darum kann Gott dem Teufel nun auch nicht verwehren, in der Schöpfung spazieren zu gehen, denn irgendwie gehört sie ihm. der Teufel wiederum wäre ein dummer Teufel, wenn er die Schöpfung ganz ruinieren würde, denn dann ginge sein Unterpfand zum Teufel. Gott wiederum sieht eine Möglichkeit, viel Arbeit zu sparen, indem er dem Teufel ab und zu die Weltherrschaft ganz überläßt. Auch knickt ihm der Teufel nicht immerzu alle Rosenknospen um, wenn er eine richtige Aufgabe hat. Er kann die alte Erde ja doch nicht kaputtmachen. Den Teufel wiederum ärgert dieser Zwang zur Werterhaltung, und er entschuldigt sich dadurch, daß er zu den besten Zwecken immer die niederträchtigsten Mittel anwendet. Das ist die Heinesche Theodizee, sie ist viel plausibler als die seines Vorgängers Leibniz, und mehr muß man über die Welt vielleicht auch gar nicht wissen.
Zugleich besitzt diese Theodizee den Vorzug, viel vom Wesen der Politik zu erklären.

(a.a.O., S.164f.)

Lit.:
Decker, K.: Heinrich Heine. Narr des Glücks. Berlin 2005.


Hermine sagt: Bitte sehr.

Kommentare

  1. Kein Wunder, dass jemand wie Heine schon zu seiner eigenen Zeit auf den bitter-sauren Widerstand jener traf, die bis heute so vehement einer trockenen, weltfremden Theologie anheimgefallen sind.

    Staubige,leblose, weil nicht gelebte Gedanken und der Humor eines Heine vertragen sich halt nach wie vor nicht.

    Und dass sowas nicht nur auf religiòse Themen zutrifft, versteht sich von selbst.

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